Kettenglied 6: (mit aktualisierten Grafiken, Stand April 2006) Die auffälligen Unterschiede in den bisher untersuchten Kettengliedern lässt die Vermutung aufkommen, dass sich die US-Lücken in der Wettbewerbsfähigkeit des Landes niederschlagen müssen. Insbesondere die Produktivitätslücke lässt nichts Gutes ahnen. Zwar ist die Produktivität nur einer von mehreren Faktoren, die die Handelsbilanzen beeinflussen, aber es ist ein bedeutender. Die Bedeutung dieses Faktors erschließt sich nicht in einem lediglich statischen Kontext (Produktivität ist ein Bruch, bei dem man den Output am Input misst - Punkt). Die Bedeutung erschließt sich vielmehr in einem dynamischen Kontext (der Ausstoß wird nicht lediglich als Menge begriffen, sondern simultan als Qualität; Produktivität über die Zeit hinweg betrachtet ist dann ein Resultat von Qualifikation, Forschung, Kreativität, Innovationsfähigkeit). Produktivität so verstanden muss dann eine direkte Verbindung zur Wettbewerbsfähigkeit eines Landes aufweisen. Die untersuchte Makrokette hoher Konsum >> niedriges Sparen >> niedrigere Investitionstätigkeit >> zurückbleibendes Produktivitätswachstum hat negative Konsequenzen für die außenwirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit. Wesentlicher Ausgangspunkt für deren Messung ist die Handelsbilanz. Hier wird dokumentiert, in welchem Maße ein Land operativ fähig ist, Exporte an den Rest der Welt zu liefern, und in welchem Maße es von Importen abhängig ist. Die Handelsbilanz umfasst beide Ströme, soweit es sich um den Ex- und Import von Waren handelt.
(1) Handelsbilanz in USA negativ, in Europa hingegen positiv Tabelle 6-1 zeigt den Niedergang der Wettbewerbsfähigkeit der USA auf den Weltmärkten in den letzten Jahren.
>Grafik 6-1:
(aktualisiert im April 2006)
In 2001 war das Exportdefizit in der Handelsbilanz gegenüber 2000 ein wenig zurückgegangen (-427,2 gegen -452,4 Mrd. $). Unsere Voraussage vom letzten Jahr "but this cannot be considered as an inversion of the long term trend. In 2002 the deficit will even increase to a new record level" hat sich dann bestätigt. In 2002 ist die Handelsbilanz auf ein Rekordtief von nunmehr 484,4 Mrd. $ abgestürzt. Europa hingegen kann eine deutlich positive Handelsbilanz vorweisen. Den Rückgang der Exportüberschüsse, den die EURO Area zwischen 1997 und 2000 hinnehmen musste, konnten die Europäer wieder wenden. Der Überschuss hat im vergangenen Jahr mit 125,5 Mrd. $ fast wieder das Niveau von 1997 (= 132 Mrd. $) erreicht. Im Gegensatz zu den USA ist Euro-Land in der Lage, nicht nur die notwendigen Importe vollständig zu finanzieren, sondern erzielt darüber hinaus noch einen Überschuss - ein klarer Vorsprung bei der Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten. Diese Grafik zeigt in aller Deutlichkeit, dass "EuroSclerosis" ein politisches Etikett ist, das mit den makroökonomischen Fundamentaldaten nichts zu tun hat. Sicher, in jeder Volkswirtschaft finden sich sklerotische Sektoren, Strukturen und Verhaltensweisen. Man kann z. B. davon eine ganze Reihe in den USA finden. AmericanSclerosis? Wie auch immer: Das Verkalkungs-Etikett den Europäern anzuheften, stellt die Fakten auf den Kopf. Dazu noch erhellend und mit wirtschaftspolitischem Schlüsselcharakter: >>
Extra-Grafik: (aktualisiert
im April 2006)
(2) Ist das amerikanische Defizit lediglich kurzfristiger Natur? Welcher Natur ist das US Handelsbilanzdefizit - ist es ein zyklisches oder ein strukturelles Problem? Im Boom der 90er Jahre hat der US main stream gerne das starke Wachstum der amerikanischen Wirtschaft als Grund für das hohe Handelsbilanzdefizit angegeben. In dieser Version fungierten die USA als eine Welt-Konjunkturlokomotive, die riesige Importe anzog. Die Importe wurden damit zum zyklischen Problem erklärt und wurden sogar als Indiz für eine starke Wirtschaft hingestellt. Ein einziger Blick in die langfristige Zahlungsbilanzentwicklung hätte schon gereicht, diese Version als falsch zu erkennen. >>
Grafik 6-2:
(aktualisiert im April 2006) Hinweis: In den "International Accounts" werden in aller Regel vom Bureau of Economic Analysis zusammen mit dem US Census Bureau (manchmal drastische) Revisionen vergangener Werte vorgenommen. Wenn wir den gesamten Zeitraum seit dem II. Weltkrieg ins Auge fassen, entdecken wir ein klares, dramatisches Muster. Zunächst gab es immer einen kleinen, positiven Überschuss der Exporte über die Importe. Die Wende kommt in 1971, zum ersten Mal tritt ein Importüberschuss auf. Schon bald danach kann sich die Handelsbilanz nicht mehr aus dem negativen Territorium lösen - mit wachsender Geschwindigkeit geht es abwärts. Die Werte aus 2002 unterstreichen
abermals die alarmierende Tendenz: Dies belegt erneut unsere erstmals in 1998 aufgestellte These, dass die operative Basis der amerikanischen Wirtschaft krankt. In den außenwirtschaftliche Austausch zwischen den USA und dem Rest der Welt gehen alle wirtschaftlichen Bedingungen ein, sowohl sämtliche amerikanische binnenwirtschaftliche als die in allen anderen Ländern. Die USA erleben einen tief greifenden Niedergang ihrer internationalen Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten. Darüber kann das kräftige binnenwirtschaftliche Wachstum nicht hinwegtäuschen. Das US Handelsbilanzdefizit hat sich jetzt mehr als dreißig Jahre lang aufgebaut. Der Boom begann 1991. Ohne jeden Zweifel: Das US Handelsbilanzdefizit ist struktureller und nicht konjunktureller Natur.
(3) Aus welchen Sektoren stammen die Exportdefizite? Ein Blick in die Untersektoren der Handelsbilanz lässt die Natur der US Exportdefizite noch plastischer hervortreten.
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Grafik 6-3:
(aktualisiert im April 2006)
Dass im Bereich der Konsumgüter die weitaus größten Exportdefizite anfallen, unterstreicht die aufgezeigte Misere. Dieses Schwergewicht reflektiert die hohe Konsumneigung der Amerikaner aus einem anderen Blickwinkel heraus. Hier zeigt sich erneut die Bedeutung des auf dieser Web-Seite an den Anfang gestellten Ketttengliedes der Konsumneigung. (Aus den Angaben des Bureau of Economic Analysis haben wir "Sonstige" herausgenommen, denen allerdings auch kein besonderes Gewicht zukommt. Tab. 6-3 reflektiert also einigermaßen die Gewichtsverteilung der Exportdefizite, wie wir sie bisher dargestellt hatten). >>
Grafik
6-4: (aktualisiert im April 2006) Diese Grafik führt anschaulich die strukturelle Entwicklung der aus diesen drei Hauptsektoren stammenden Exportdefizite vor. Es ist eben keineswegs ein konjunkturelles Muster, wie immer wieder vernebelnd behauptet wurde. Zwar trägt jeder Konjunkturaufschwung zu einem weiteren Minus in dieser Bilanz bei. Aber in erster Linie sehen wir, dass sich die Defizite langfristig aufschaukeln. Diese Kategorien befinden sich jetzt seit zwei Jahrzehnten in Defizitterritorien. Sie haben strukturelle Ursachen, wie sie auf dieser Web-Seite klar verdeutlicht worden sind. Die Form der Kurven lassen die Vermutung nicht aufkommen, es könne eine baldige Umkehr der Verläufe eintreten. Wir sehen hier den wohl beweiskräftigsten Indikator für die US-De-Industrialisierungs-These: Die Industrie kann von der starken Binnennachfrage dieses großen Landes zehren; auf den Weltmärkten hingegen verliert sie immer mehr an Wettbewerbskraft - während umgekehrt die ausländischen Industrien in Amerika ständig ihre Position verbessern.
(4) Aus dem Import-Blickwinkel: Das Gewicht des Öls in der Handelsbilanz Ölimporte schlagen in den USA volkswirtschaftlich noch ganz anders zu Buche als in anderen hochentwickelten Volkswirtschaften. Die geringe US-Steuerbelastung auf Ölprodukte, die niedrige Preise zur Folge haben, hinterlässt ihre Spuren (Hummer-Jeep). Das Handels- und Wirtschaftsministerium (Dept. of
Commerce) weist für 2002 aus: Allein im Bereich des Ölhandels ist also ein Jahresdefizit von insgesamt 93,2 Mrd. $ angefallen. Dies sind immerhin 19,2 % des Gesamtdefizits der Handelsbilanz (2002 = 484,5 Mrd. $ >>
Grafik
6-5:
(aktualisiert im April 2006) Der Hunger der amerikanischen Volkswirtschaft nach Öl ist groß. Die extensive Lebensweise - Jeeps (SUV), mangelhafte Isolierung von Gebäuden, Einsatz von Klimaanlagen bei offenen Türen - hinterlässt ihre Spuren. Die Importe von Öl sind in den letzten 40 Jahren rasant gestiegen. Machten sie jahresdurchschnittlich in der zweiten Hälfte der 60er Jahre noch 2,2 Mrd. $ aus, so sind inzwischen - nach einem deutlichen Sprung nach oben - 109,1 Mrd. Dollar pro Jahr an Importen zu finanzieren. >> Grafik 6-6:
Aus der Wertschöpfung, die durch Exporte amerikanischer Waren und Dienstleistungen erzielt wird, d.h. also aus operativer Leistung, ist dies alles schon seit drei Jahrzehnten nicht mehr zu finanzieren. Die amerikanische Wirtschaft hat ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit verloren, jedenfalls per saldo, wie die Salden der Handels- und Leistungsbilanz zeigen. D.h. die einheimische Produktion, das
Sozialprodukt, die Leistungen der US-Wirtschaft reichen nicht aus, um die
Importe bezahlen zu können. Um die Importe aufrechterhalten zu können,
muss
die gesamte Volkswirtschaft dem Rest der Welt immer mehr Aktiva (assets)
verkaufen: Aktien, Grundstücke, Fabriken, Anleihepapiere
(5) Die Mitverantwortung des Finanzsektors für den Niedergang In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ist es
Advanced Financial Capital gelungen, seine Machtstellung gerade im
Vergleich zur operativen Wirtschaft ständig weiter auszubauen. Die Handelsbilanzentwicklung der USA, das gigantische Exportdefizit, hätten makroökonomischen Denkmustern aus Zeiten zufolge, in denen die reale Werte produzierende Wirtschaft noch im Vordergrund der Wirtschaftspolitik stand, eine Abwertung des Dollars gefordert, um dem Entstehen der Defizite in der Handelsbilanz entgegenzuwirken. Im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts jedoch hatte der Finanzsektor bereits eine Position erlangt, das Gegenteil zu propagieren und zu exekutieren. Exponierte Vertreter der Finanzwelt - hier stehen die beiden Finanzminister der späten Clinton-Administration, Robert Rubin und Larry Summers, ganz im Rampenlicht - setzten in den Boomzeiten der sog. New Economy die "Policy of A Strong Dollar" durch. Diese Politik ging fühlbar zulasten der operativen US-Wirtschaft und damit zu Lasten der dort zu findenden Arbeitsplätze mit hoher Wertschöpfung. Deren Exporte wurden immer teurer, während die Exporte des Restes der Welt nach den USA immer billiger wurden. Dies schwächte die ohnehin angeschlagene Exportfähigkeit der USA weiter. Die EU-US-Vergleich zeigt auch diese für die US-Industrie verheerenden Wirkungen: >> Grafik
6-7:
Grafik 6-5 verdeutlicht den Anstieg der deutschen
Exportüberschüsse mit den USA in demselben Zeitraum, in dem die DM eine
riesige Abwertung hinnehmen mußte (Aufwertung des $ um fast 50 % von 1995
bis zur Spitze des Booms in 2000).
Das umgekehrte Bild zeigt die nächste Grafik. >> Grafik
6-8:
Welch gravierende Effekte
die Dollaraufwertung umgekehrt auf die Exportsituation der USA hatte,
macht Grafik 6-6 klar. Die Dollaraufwertung hat die Exportdefizite der USA
gegenüber Westeuropa auf das fast Sechsfache ansteigen lassen. An dieser Stelle stellt sich die Frage, wie es möglich ist, dass die Regierung eine Finanzpolitik mit derart schwerwiegenden Konsequenzen für die eigene Exportwirtschaft betreiben kann. Die Antwort ergibt sich aus der einzigartigen Machtstellung, die Advanced Financial Capital langfristig, aber vor allem auch durch die Faszination der scheinbar alle Amerikaner reich machenden New Economy, erreicht hatte. Der Finanzsektor handelt nach kurzfristigen Zielvorgaben. Sieht man den Dollar als eine allgemeine "Aktie auf die USA", so erschließt sich, dass die Halter dieser Aktien, vor allem also die Finanzwelt, von jedem weiteren Dollaranstieg profitieren. Dass die langfristigen Interessen der US-Volkswirtschaft dabei parallel Schaden nehmen, interessiert demgegenüber weniger. Die Lasten fallen in anderen Sektoren an. Es musste erst die spekulative Börsenblase platzen, um das Machtpotential von Advanced Financial Capital soweit zu reduzieren, dass die Bush-Administration einen Vertreter von Manufacturing zum Finanzminister machte. Snow hatte zuvor mehrfach erklärt, dass die Politik des starken Dollars nicht im Interesse der amerikanischen Industrie läge.
Die Handelsbilanz ist ein Teil des Problems; sie führt direkt zur Leistungsbilanz. Wie stellt sich diese dar? >>Kettenglied 7: Die US-Leistungsbilanz |