Finalglied 8:  
Leistungsbilanz und  Auslandsvermögen -
der schleichende Verlust ökonomischer und politischer Macht

(mit aktualisierter Grafik, Stand April 2006)                                        zurück zur Startseite


Mit Kettenglied 7  "Leistungsbilanz"  haben wir die Einkommenssphäre abgehandelt.
Wenden wir uns nun der Vermögenssphäre zu. Hier stoßen wir auf Vorgänge, die uns in den Medien in aller Regel vorenthalten werden.

 

(1)   Die Leistungsbilanz misst die Veränderung des Auslandsvermögens

Der Netto-Auslandsvermögensstatus der USA (US Net International Investment Position) spiegelt die Bilanz aller Vermögensaktiva, die Amerikaner in anderen Ländern halten, minus aller Vermögenswerte, die umgekehrt Ausländern in den USA gehören. Die US Vermögenswerte umfassen alle Aktiva in privater und in öffentlicher Hand, also z.B. getätigte Direktinvestitionen, Reservepositionen beim IWF, Special Drawing Rights, Devisenreserven, Portfolio-Investments, Goldreserven etc. Abzuziehen davon sind die gleichen Positionen, die Ausländer in den USA halten, da sie Verbindlichkeiten der USA darstellen.

Wie nun verändert sich der Auslandsvermögensstatus eines Landes?
Mit dieser Frage stoßen wir auf einen
Gesichtspunkt, der in aller Regel in der Analyse  ökonomischer Entwicklungen außer acht gelassen wird. Obwohl im ein entscheidender strategischer Stellenwert zukommt.

Hier stoßen wir auf die Eigenschaft, dass es sich bei den Defiziten in der Leistungsbilanz nicht einfach um Jahresergebnisse handelt, die im nächsten Jahr etwa keine Rolle mehr spielten.

Über die Jahre hinweg gerechnet nämlich, bauen sich diese Bilanzdefizite zu makroökonomischen Gesamtergebnissen auf. Dieser Effekt ist der gleiche, den wir in Unternehmensbilanzen finden. Auch dort wird in der Gewinn- und Verlustrechnung (Stromgröße) das Delta ausgewiesen, das das Eigenkapital (Bestandsgröße) mehrt oder mindert.

Eine positive Leistungsbilanz nämlich führt zu einem Anstieg der Aktiva einer Volkswirtschaft, ausgewiesen im Auslandsvermögensstatus (International Investment Position). In diesem Fall entspricht die Nettoersparnis nicht nur der heimischen Nettoinvestition (Bildung von nationalem Volksvermögen), sondern es erfolgt darüber hinaus eine Investition im Ausland; d. h. es werden zusätzlich Vermögenswerte in anderen Ländern aufgebaut.

Umgekehrt führt eine negative Leistungsbilanz zu einer Verschlechterung des Auslandsvermögensstatus. Defizite in der Leistungsbilanz spiegeln ein nicht ausreichendes Maß an Ersparnis. Zur Finanzierung der heimischen Investition müssen deswegen auch Ausländer beitragen. Diese erwerben das Eigentum an den finanzierten Vermögensgegenständen. Die Gesamtvermögen des Landes gehen also teilweise in die Hände von Ausländern über. Das Netto-Auslandsvermögen wird abgebaut. Der Netto-Auslandsvermögensstatus verschlechtert sich.

Überschüsse oder Defizite in der Leistungsbilanz sind folglich entscheidender Indikator für die Veränderung der Position eines Landes in der globalen Wirtschaft.

 

(2)   Die Fakten zur Entwicklung des US-Auslandsvermögensstatus

Die Statistiken für diesen Wert reichen bis 1984 zurück. Das Netto-Auslandsvermögen der USA schneidet 1986 die X-Achse und betritt negatives Territorium.

>> Grafik 8:   (aktualisierter Stand vom April 2006)
Auslandsverschuldung der USA seit 1986 immer größer

Methodischer Hinweis: Wiederholt haben wir bereits darauf hingewiesen, dass vor allem bei internationalen Statistikvergleichen immer wieder z. T. große Korrekturen an Vergangenheitsdaten vorgenommen werden. So auch bei der Investment Position. Der Leser sollte sich davon nicht irritieren lassen. Es ist ein komplexes Feld.


Wir müssen davon ausgehen, dass die Vereinigten Staaten am Ende des II. Weltkrieges mehr Vermögenswerte im Ausland besaßen, als umgekehrt Ausländer Vermögensaktiva in den USA besaßen. Zu vermuten ist, dass der Nettostatus an Auslandsvermögen substantiell positiv war.

Aus der Grafik ist ersichtlich, dass die Weltmacht dieses gesamte Vermögen netto verloren hat. Beim Schnitt durch die X-Achse war die US-Vermögensposition gleich Null: Ausländer besaßen zu diesem Zeitpunkt gleichviel Vermögen in den USA, wie Amerikaner im Rest der Welt. Das gesamt angesammelte Nettovermögen war konsumiert. Nur 40 Jahre nach dem Krieg.

Das Muster in den drei US-Kettengliedern Handels- und Leistungsbilanz sowie Auslandsvermögen lässt sich so skizzieren:
Seit dem Beginn der 70er Jahre kumuliert die Handelsbilanz Verluste.
Seit den 80er Jahren folgt die Leistungsbilanz dieser Entwicklung.
Seit Mitte der 80er Jahre ist deswegen die Auslandsvermögensposition der USA ebenfalls ins negative Feld abgerutscht.
Seit Mitte der 90er Jahre vollzieht sich dies alles mit wachsender Geschwindigkeit.

 Unsere Makrokette macht deutlich, warum das so ist.

 

(3)   Die strategischen Konsequenzen für die USA

Um die wesentlichen Punkte kurz zu schließen: Die USA erzeugen ihr hohes Wachstum durch übermäßigen Konsum. Diesen Konsum  können sie per saldo nicht mehr allein finanzieren. Dafür benötigen sie zusätzlich das Ausland. Zur Finanzierung der hohen Importüberschüsse müssen sie Vermögenswerte verkaufen, um diese auch bezahlen zu können. Jahr für Jahr.

Dies hat strategische Konsequenzen: Das seit über 30 Jahren ansteigende Defizit in Handels- und Leistungsbilanz unterminiert schleichend die ökonomische Position der Weltmacht USA.

Dies ist nämlich der Schlüssel dieser Entwicklung. Diese Makrokette ist ja keineswegs umsonst zu haben. Weder ökonomisch, noch politisch.

Fortgelassen in der Berichterstattung der Medien wird durchweg,  dass eine permanent  negative Leistungsbilanz mit einem Verlust ökonomischer Macht einhergeht.
Das Ziel von Direktinvestitionen in anderen Ländern ist generell, diese Investitionen auch direkt durch den Investor zu kontrollieren. Bayer Leverkusen kauft die amerikanische Bayer, Daimler-Benz kauft Chrysler, BMW investiert in eine neue Fabrik auf der grünen Wiese in South Carolina, General Motors kauft Opel, um diese Investitionen direkt zu managen. Auf dieses Ziel läuft es immer hinaus, das Kapital zu kontrollieren, um eine bessere Position im globalen Rennen zu erringen. In der Regel werden die Positionen an den Spitzen dieser direkt erworbenen produktiven Einheiten mit eigenen Leuten besetzt (Werksleiter, Meisterpositionen usw.). Je mehr Schlüsselpositionen besetzt werden, um so größer der Gewinn an wirtschaftlicher Macht. Es schließt sich der operative Kreis: Weil die operative Kraft nicht ausreicht, den weltweiten Wettlauf zu bestehen, entstehen vorne in der Kette Defizite, die hinten zu einem weiteren Verlust an Positionen führen.

Natürlich gibt es immer Einzelbeispiele zuhauf, die in die umgekehrte Richtung wirken. Wir reden hier vom Saldo aller dieser Vorgänge, und der geht zulasten der USA. 

Für die Messung der Wettbewerbsfähigkeit eines Landes gehören die Handels- und Leistungsbilanz an die Spitze der Benchmark-Hierarchie. So, wie die Gewinn- und Verlustrechnung eines Unternehmens hunderttausende mikroökonomischer Vorgänge komprimiert, so fassen die Handels- und Leistungsbilanz hunderttausende von Makrovorgängen zusammen. Alle Einflussfaktoren für die Wettbewerbsfähigkeit spiegeln sich in den Einzelpositionen. Ob Steuerbelastung oder Infrastruktur, ob Qualifikation, Produktivität oder Innovationsfähigkeit, ob Einkommen oder Arbeitszeit - jeder Faktor beeinflusst zuletzt die Fähigkeit zum Export und die Neigung zum Import. Die Gesamtperformance einer Ökonomie im Weltverbund mit allen anderen bündelt sich in Handels- und Leistungsbilanz wie in einem Brennglas.

Der Nettoverlust an Auslandsvermögen spiegelt die Einbußen an weltwirtschaftlicher Führungskraft. Wir sehen die Erosion globaler Wirtschaftsmacht.

Dieser ökonomische Machtverlust zieht langfristig unweigerlich einen Verlust politischer Macht nach sich. Die Erosion zeigt sich zuerst in den operativen Einheiten, den Unternehmen. Da diese die Basis der USA sind, wird der schleichende Machtverlust Schritt für Schritt den Überbau der Weltmacht USA unterminieren. 

 

(3)   Die strategischen Konsequenzen für Europa

Zunächst die negative Abgrenzung:

Dass die aufgedeckte Entwicklung der US-Makroaggregate kein Ziel für Europa sein kann, haben die Fakten ausreichend belegt.

An dieser Stelle muss die Rolle und die Entwicklung der Finanzmärkte diskutiert werden. Deren Rolle bei der Herausbildung der US-Strukturen ist ja unübersehbar.

Dieser Wirtschaftssektor hat  in den letzten Jahrzehnten, insbesondere noch einmal in den 90er Jahren stark an Gewicht gewonnen. Die Vorgänge auf diesen Märkten sind in den Vordergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt und überdecken mehr und mehr die Entwicklung in fundamentalen und operativen Wirtschaftsbereichen.

Diese Verlagerung der Aufmerksamkeit trägt nicht gerade zur Gewinnung eines ausgewogenen ökonomischen Gesamtbildes bei. Es ist ja nicht so, dass gerade Devisenhändler, Finanzanalysten oder finanzmarktnahe Volkswirte die Stärken und Schwächen der Volkswirtschaften nüchtern gegeneinander abgleichen würden. Ganz im Gegenteil hat die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich vor einiger Zeit festgestellt, die Devisenmärkte würden Nachrichten offenbar asymmetrisch wahrnehmen.  Es wird darüber hinaus auf die tief „verwurzelte Neigung an der Wall Street verwiesen, nur die günstigen Nachrichten aufzunehmen“ (FAZ, 3. 12. 01). Schließlich ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass Finanzkreise sich berufsbedingt fast ausschließlich für kurzfristige Zusammenhänge interessieren. Diesem Hang fallen vor allem Analysen von Langfristtrends zum Opfer, die nicht mehr wahrgenommen werden, deswegen aber nicht etwa nicht mehr existieren.

Abschließend die positive Abgrenzung:

So sehr diese Tendenzen an Oberhand gewinnen mögen: Finanzinteressen sind nicht identisch mit Gesamtinteressen.

Gerade im Verhältnis USA zu Europa und insbesondere auch Deutschland darf der unterschiedliche Industriebesatz nicht aus den Augen verloren werden (Anteil der Erwerbstätigen in der Industrie: In Deutschland nahezu 35 %, in den USA unter 25 %). Wurde oben als neuerer Einfluss registriert, dass US-Finanzentwicklungen der US-Industrie schweren Schaden zufügen (strong dollar pushed de-industrialization), so würde dies gegebenenfalls ungleich mehr für Deutschland gelten. In der deutschen Industrie nämlich sind nicht nur die Arbeitsplätze mit hoher Wertschöpfung zu finden. Die deutsche Industrie ist der Generator der für den Gesamtwohlstand dieses rohstoffarmen Landes entscheidenden Exportüberschüsse (Automobilindustrie, Maschinenbau, Chemieindustrie). 

Die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie auf den Weltmärkten ist deshalb eine wirtschaftspolitische Aufgabe von hoher Bedeutung. Die Industrie wird für Deutschland um so nutzbringender, je weiter die USA die Interessen ihrer eigenen Industrie negieren.    

Alan Greenspan hat schon 1996 die Vorgänge an Wall Street als „irrational exuberance“ gekennzeichnet. Wenn er fünf Jahre später, nach deutlicher Zunahme der exuberance gezwungen war, die Geldschleusen zu öffnen, „um Wall Street zu retten“ (Herbert Berger, Dresdner Bank; FAZ v. 14. 7. 01), dann unterstreicht dies die Gefahren insbesondere für die amerikanische Industrie – aber nicht nur für diese. 

Die amerikanische Leistungsbilanz ist derzeit die bedrohlichste Erscheinung in der Weltwirtschaft. Fundamentale Trends haben sich weit weg von den ihnen unterliegenden realen Strukturen entfernt. Das Risiko unkontrollierbarer Reaktionen wächst parallel zu diesen Abweichungen.

Gewiss, die US-Wirtschaft hat nach wie vor ein Gewicht, das der große europäische Raum nicht ignorieren kann. Bei allen wirtschaftsstrategischen Überlegungen sind die von den USA infolge ihrer politischen und militärischen Führungsrolle ausgehenden Zwänge zu beachten. Dies gilt gerade für die vom US-Finanzsektor gesetzten Parameter.

Die hier gezeigten Trends jedoch verbieten zugleich, es einfach bei diesen Zwängen zu belassen. Der USA kommt keine wirtschaftliche Führungsrolle im Sinne von 'Leadership'  zu. Die USA sind nun einmal nicht der Weltpionier hinsichtlich der Entfaltung ökonomischer Effizienz.  

Entscheidend für das zusammenwachsende Europa ist, dass Führung mehr bedeuten muss, als auf von anderen Ökonomien ausgelöste Zwänge zu reagieren. Wirtschaftspolitische Steuerung muss auch heißen, einen eigenständigen Weg zu finden, der die amerikanischen Fehlentwicklungen ins Auge fasst und sie zu vermeiden versucht.  

Erster Schritt auf diesem Wege muss sein, Fakten zur Kenntnis zu nehmen, um sich vom Zerrbild "role model USA" zu lösen. Dies ist ein wichtiger Baustein für die Herausbildung eines neuen europäischen Selbstbewusstseins und für eine europäische Identität.