Kettenglied 5:  
Höheres Wachstum der Produktivität in Europa

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Über die Jahrzehnte gerechnet, liegt Europa im Produktivitätsrennen vor den USA.
MacroAnalyst
erläutert auf dieser Seite den Begriff, präsentiert die Daten, klärt die Ursachen
und stellt das Ergebnis in seinen makroökonomischen Zusammenhang.

 

I.   Was ist Produktivität?

Zwei Fragen wollen wir vorab klären.
Erstens, was sagt diese Kennziffer aus?  Zweitens, wie messen wir Produktivität?

1.   Worum geht es bei der Produktivität?

Produktivität ist ein Maß für Effizienz im Produktionsprozess. Definiert wird sie so:

Produktivität  =  Output  :  Input

Output ist die hergestellte Menge, Input ist die Menge an eingesetzten Produktionsfaktoren.

(a) Wenn es um differenzierte analytische Fragen geht, welche Faktoren zum Inlandsprodukt beigetragen haben, müssen alle Faktoren, die die Ausbringung beeinflussen, einbezogen werden. Man spricht von "Total Factor Productivity" (TFP). Die beiden wichtigsten Einzelfaktoren sind Arbeit und Kapital.
Bei der Arbeit geht es dabei dann nicht nur um die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden, sondern auch um ihre Qualität.
Beim Kapital geht es um die Menge der eingesetzten Kapitalgüter. Hier werden heute - wie in der Vergangenheit auch - vor allem mehr die traditionellen Kapitalgüter (Werkzeugmaschinen, Fließbänder) einbezogen; inzwischen wird aber darüber hinaus versucht, die "Information and Communication Technology" (ICT) gesondert zu erfassen. Der ICT nämlich wird ein besonders hohes Potential zur Produktivitätssteigerung zugesprochen.

Diesem Ansatz zufolge kann man dann z. B. Kapital- von Arbeitsproduktivität unterscheiden. TFP ist daher ein anspruchvolles statistisches Konzept. Berechnungen stehen vorerst nur für wenige Länder zur Verfügung.

(b) Wenn es aber um wirtschaftspolitische Fragen geht, benutzen wir üblicherweise nur den Begriff der Arbeitsproduktivität. Dann wird also gemessen, mit wieviel Arbeitseinsatz das Bruttoinlandsprodukt erzeugt wurde.

Natürlich ist sich jedermann dabei bewusst, dass die Beschäftigten Kapitalgüter zur Hilfe genommen haben (Fabriken, Fließbänder, Werkzeugmaschinen, Computer), um das Sozialprodukt zu produzieren. Die hergestellt Gesamtproduktion (BIP) wird jedoch nur auf den Arbeitseinsatz bezogen. Das Sozialprodukt wird als Ergebnis menschlicher Arbeit begriffen (inklusive der Herstellung der Kapitalgüter selbst).

O'Mahony und van Bark in einer neuen Produktivitätsstudie für die EU Kommission
(Mary O'Mahony and Bart van Ark (ed.): EU productivity and competitiveness: An industry perspective.  Can Europe resume the catching-up process? European Commission 2003):"Labour productivity has the advantage that it is readily tranparent, relies less on methodological assumptions than other measures and is the measure most associated with increases in standards of living. There is also the practical consideration, that it is possible to derive data on labour productivity covering a span of two decades for all EU countries".

(c) Weil Produktivität lediglich ein Maßstab zur Messung von Effizienz ist, macht es auch wenig Sinn, z. B. das "Sozialprodukt pro Kopf" dafür heranzuziehen. Kleinkinder und Rentner tragen nun einmal nicht zur Produktion bei. Diese Kennziffer kann durchaus herangezogen werden, ganz anderen Fragestellungen nachzugehen. Z. B. der Frage nach der Produktion gesellschaftlichen Wohlstands und seiner Verteilung, oder auch der Frage nach einer Veränderung der Erwerbsbeteiligung in Zusammenhang mit dem Problem der Einwanderung usw. Dies hat dann auch einen Produktivitätseffekt in der Zukunft. Aber den Status quo der volkswirtschaftlichen Effizienz zu messen, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Produktivität ist ein klar abgegrenztes Konzept. Es ist der Kern des Wohlstandes, nicht mehr und nicht weniger.

 

2. Wie messen wir den Input von Arbeit?

Im oben genannten Bruch steht also im Nenner eine Quantität von Arbeit, deren Qualität allerdings von ausschlaggebender Bedeutung für die Ausbringung ist.

Diese Menge wird üblicherweise auf zweierlei Art gemessen:
Beschäftigtenproduktivität bezieht den Produktionsausstoß auf die Anzahl der eingesetzten Beschäftigten.
Beschäftigungsproduktivität bezieht den Produktionsausstoß hingegen auf die Anzahl der eingesetzten Beschäftigungsstunden (= Beschäftigte multipliziert mit Arbeitszeit).

Natürlich ist die zweite Abgrenzung die präzisere. Es ist ein relativ bescheidenes Produktivitätsmaß, wenn man nur die Zahl der eingesetzten Arbeiter berücksichtigt. Es macht eben einen erheblichen Effizienzunterschied aus, ob eine bestimmte Produktion von 100 Arbeitern in 40 Stunden erzeugt worden ist, oder ob dieselben 100 Arbeiter diese Produktion in nur 35 Stunden hergestellt haben.

Normalerweise werden wir auf die Beschäftigtenproduktivität also nur dann zurückgreifen, wenn die Statistik keine Angaben zur Arbeitszeit bereitstellt. Leider gehört die Messung der Produktivität traditionellerweise zu den schwierigeren Problemen der Statistik. Auch der MacroAnalyst musste in der Vergangenheit hin und wieder aus Mangel an geeigneten Daten auf die ungenauere Kennziffer "Produktivität je Beschäftigten" zurückgreifen. "However, this focus is to a certain extent misleading" (EZB).

Wie irreführend der einfachere Maßstab der Beschäftigtenproduktivität ist, wird gerade bei den Produktivitätsvergleichen zwischen Europa und den USA deutlich. Hier spielt die Einbeziehung der Arbeitszeit eine ausschlaggebende Rolle. Dies wird mit einem Blick auf die geleistete Arbeitszeit deutlich:

 

Tabelle 5-1:

Amerikaner müssen 120 Stunden länger arbeiten als Europäer

Arbeitszeit in Stunden pro Erwerbstätigen und Jahr 2001
 

USA 1.702
EU-15 1.583
Deutschland 1.413
 

USA + EU = Hours worked per person engaged;  
Deutschland = Hours worked per employee;

Quelle:  O'Mahony und van Bark  CD ROM, Produktivitätsstudie für die EU Kommission    
                               .                                                                                          
MacroAnalyst

>Grafik 5-1: Arbeitszeit ausgewählter europäischer Länder


Wenn also Produktivitätsvergleiche zwischen den USA und Deutschland beispielsweise präsentiert werden, die die Arbeitszeit ausklammern, dann wird vernachlässigt, dass jeder Amerikaner im Durchschnitt für die gleiche Produktionsmenge fast 300 Stunden länger arbeiten muss - ein gewaltiger Effizienzunterschied (nach einer IAO-Statistik aus 2001 waren es sogar 500 Std., allerdings methodisch nicht vergleichbar).

Man sollte daher bei allen Produktivitätsangaben zu den USA zuerst immer den verwendeten Maßstab prüfen, hier wird viel Missbrauch betrieben.



II.   Wie wird Produktivität erzeugt?

Zum Wachstum der Produktivität tragen eine ganze Reihe unterschiedlicher Faktoren bei, z. B. Qualität und Organisation der Arbeit, Infrastruktur eines Landes, Innovationskultur, technologischer Fortschritt.
Ein ganz entscheidender Faktor ist die Ausstattung der Arbeit mit Kapitalgütern. Die Anhäufung von Kapitalgütern über die Zeit hinweg ist eine Funktion der Investitionstätigkeit. Wenn eine Volkswirtschaft über Dekaden hinweg eine niedrigere Investitionsquote aufweist, also einen geringeren Teil des Sozialprodukts für Investitionen aufwendet, wird dies ein langsameres Wachstum der Produktivität nach sich ziehen. Diese Effekte liegen im Falle von Rationalisierungsinvestitionen, die explizit auf Produktivitätsgewinne zielen, offen zu Tage.

Sie zeigen sich aber auch im Falle von Erweiterungs- und Ersatzinvestitionen. Der überwiegende Teil dieser Investitionen schlägt sich ebenfalls in Produktivitätssteigerungen nieder: Expansion der Produktionskapazitäten, Modernisierung der Produktionstechnologien, Bau neuer Fabrikgebäude sind auf eine höhere Ausbringung pro Arbeitsstunde gerichtet. Diese Investitionen führen in aller Regel zu verbesserten qualitativen und technologischen Niveaus. Der Fall, dass eine Investition abgeschriebene Prozesse lediglich reproduziert, gehört zu den Ausnahmen. Höhere Kapitalintensität und eine bessere Qualität der eingesetzten Kapitalgüter führen zu einer Steigerung der Arbeitsproduktivität.

Die langfristige, nämlich seit über vier Jahrzehnten höhere Investitionsquote in Europa lässt damit eine höheres Wachstum der Produktivität erwarten.

 

III.   Wachstum der Produktivität: In Europa höher

Und genau dies belegen die langen Zeitreihen. MacroAnalyst hat bereits auf früheren Ausgaben dieser Web-Seite empirische Studien zitiert, die höhere Produktivitätsfortschritte für Europa belegt haben. Zuletzt war dies die Untersuchung der Europäischen Zentralbank aus 2002.
>Kernaussagen dieser Studien

Inzwischen hat nun die EU Kommission eine differenzierte Produktivitätsuntersuchung durchführen lassen, die ein ähnliches Bild zu Tage fördert wie die EZB in 2002; diese Untersuchung ist jedoch sehr viel tiefer unterfüttert.
Mary O'Mahony and Bart van Ark (ed.): EU productivity and competitiveness: An industry perspective.  Can Europe resume the catching-up process? European Commission, 2003

MacroAnalyst stellt hier diejenigen Ergebnisse vor, die in den Kontext unserer makroökonomischen Kette gehören.

Die gesamtwirtschaftliche Produktivität hat sich demnach folgendermaßen entwickelt:

 

Tabelle 5-2 nach O'Mahony und van Bark:

Langfristiges Wachstum der Produktivität in Europa höher als in USA

reales BIP pro ArbStd. - mittlere jährliche Wachstumsraten in %

 

  1980 - 90 1990 - 95 1995 - 00 2000 - 02
EU 2,3 2,6 1,5 0,8
USA 1,4 1,1 2,0 1,7
 

Quelle: O'Mahony and van Ark; EU productivity and competitiveness

MacroAnalyst

 

Die Suche nach einer markanten Strukturentwicklung legt nahe, den Gesamtzeitraum nicht in runde Kalenderabschnitte, sondern in nur zwei Phasen mit einheitlichen Trends aufzuteilen.

 

Tabelle 5-2 nach MacroAnalyst:

Langfristiges Wachstum der Produktivität in Europa höher als in USA

reales BIP pro ArbStd. - mittlere jährliche Wachstumsraten in %

 

  1980 - 1995 1996 - 2001
EU 2,3 1,7
USA 1,2 2,2


Wachstumsraten berechnet von MacroAnalyst.
Der Leser sollte sich nicht von den Spaltenüberschriften im Originalgutachten verwirren lassen. Überlappungen der Zeitabschnitte sind immer irreführend; Die Originalreihen führen von 1979 bis 2001, enthalten also auch keine Werte für 2002. Berechnet hat MacroAnalyst demzufolge die Veränderungsraten für den ersten Abschnitt (= 16 Jahre) und für den zweiten Abschnitt (= 6 Jahre).

Quellen:
Originaldatenreihen von O'Mahony and van Ark; EU productivity and competitivenes, Produktivitätsstudie für die EU Kommission                                                                                                                            

MacroAnalyst

 

 

Diese Neugliederung der Zeitachsen bringt dann drei klare Ergebnisse:

Erstens, und dies ist das Hauptergebnis, wuchs die Produktivität über den gesamten Zeitraum von 1979 bis 2001 in Europa mit + 59,3 % signifikant schneller als in den USA mit lediglich + 38,2 %.

>Grafik 5-2: EU höheres Produktivitätswachstum

Zweitens ist das insgesamt höhere Wachstumstempo der EU-Produktivität vor allem in der Phase von 1979 bis 1995 erzielt worden. Die jährliche Wachstumsrate lag in diesen 16 Jahren rund doppelt so hoch wie in den USA (2,3 versus 1,2 %).

Drittens zeigt Tabelle 5-2 eine auffällige Änderung der langfristigen Entwicklung, das ist das US-Produktivitätswachstum seit 1996. In der Endphase der 'Roaring Nineties' entwickelte sich erstmals seit langem mit 2,2 % p.a. ein schnelleres Produktivitätstempo als in Europa mit 1,7 % p.a. Die Bedeutung dieser neuen Entwicklung werden wir weiter unten diskutieren.

 

IV.    Niveau der Produktivität:  Europa holt auf

Ein Wachstum der Produktivität führt zu einem Anstieg des Produktivitätsniveaus. Europa erntet die Früchte des stärkeren Produktivitätstempos.

Dies zeigt die Studie für die Europäische Kommission ebenfalls. Wegen des schnelleren Produktivitätsanstiegs in Europa seit 1979 ist der seit dem II. Weltkrieg vorhandene US-Vorsprung beim Produktivitätsniveau immer kleiner geworden. Machte das europäische Produktivitätsniveau in 1980 nur 84,9 % des amerikanischen aus, so lag es in 2002 schon bei 92,1 %.

Tabelle 5-3:

Europäisches Produktivitätsniveau hat aufgeholt

Produktivität pro ArbStd. - EU-Niveau in % des US-Niveaus
 

  1980 1990 1995 2000 2002
EU 84,9 88,9 95,7 93,7 92,1
USA 100 100 100 100 100

Quelle: O'Mahony and van Ark; EU Productivity and Competitiveness

MacroAnalyst

 

Dass der europäische Mittelwert auch zuletzt noch unterhalb des amerikanischen liegt, darf über den folgenden Fakt nicht hinweg täuschen: Eine Reihe namhafter europäischer Länder liegt durchaus über dem amerikanischen Niveau.

>Grafik 5-3: Eine Reihe von EU-Ländern beim Produktivitätsniveau vor den USA

Eine ganze Reihe namhafter europäischer Staaten weist ein höheres Niveau als die USA auf. Dazu gehört sogar wieder Deutschland.
Dass der deutsche Wert (102,5) mittlerweile ebenfalls wieder über dem US-Wert liegt, ist insofern bemerkenswert, als ihn die Wiedervereinigung stark nach unten gedrückt hatte. >Studien, hier Studie 4: Die Berechnungen der Bundesbank.

Es ist insbesondere die Grafik 5-3, die den Blick für eine doch erstaunliche europäische Entwicklung schärft. Die EU ist ja nach wie vor kein einheitliches Land wie die USA. Es ist ein zusammenwachsender Raum von Ländern, bei denen einige noch vor 25 Jahren recht unterentwickelt waren. Und trotzdem kann sich der Durchschnitt, gerade im Vergleich zu den USA, sehen lassen.

 

V.   Ein Strukturbruch in der Produktivitätsentwicklung?

Dass die USA in der zweiten Hälfte der 90er Jahre ein höheres Produktivitätswachstum entfalteten als Europa, wird von O'Mahony und van Bark insofern als bemerkenswert eingestuft als dies zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg der Fall gewesen sei. Es stelle sich die Frage, ob hierin ein "structural break" zu sehen sei.

Für eine definitive Antwort sei es noch zu früh. Bis jetzt gebe es aber wenig Belege für diese US-These:
o   Erstens lägen die Produktivitätsraten der EU nicht unter dem amerikanischen Niveau der 80er Jahre. Viele EU-Länder seien mit einer neuen Ausrichtung ihrer Ökonomien befasst.
o   Zweitens hinke die EU lediglich bei der Einführung neuer Technologien nach. Das Potential ungenutzter Ressourcen sei daher entsprechend groß. Dies könne den "first mover advantage" der USA bei ICT wieder einebnen.
o   Alles in allem reflektiere das geringere Produktivitätswachstum ab 1996 einen Umstellungsprozess in Richtung neuer Wirtschaftstrukturen. Dieser sei bisher langsamer verlaufen als in den USA. Eine schnelle Diffusion neuer Technologien werde aber diesen Anpassungsprozess schmieren.

MacroAnalyst fügt dem einen weiteren Gesichtspunkt hinzu:

Amerikaner verfügen generell über eine hohe Kunst der Selbstdarstellung. In Bezug auf die Produktivitätsentwicklung hat sich dies darin gezeigt, dass schon 1997 (!) eine "Produktivitätsrevolution" ausgerufen wurde, um an eine Etikettierung durch Alan Greenspan zu erinnern. Obwohl global gesehen diese These wegen der ICT-Entwicklung ihre Berechtigung hat, hat sich im US-EU-Vergleich davon noch wenig gezeigt. Ein Überschuss von einem halben Prozentpunkt ab 1996 springt zwar ins Auge, gibt aber für US-Überschätzungen keinen Anlass. 

Skeptisch vor allem stimmt die Tatsache, dass die Produktivitätsentwicklung nicht in die Makrokette passt. Eine Produktivitäts'revolution' müsste sich in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der USA niederschlagen. Wie ab Kettenglied 6 gezeigt wird, ist dies nicht der Fall.

Die Europäische Kommission wäre gut beraten, ihre Frage "Can Europe resume the catching-up process?" mit Augenmaß zu beantworten. MacroAnalyst plädiert in keiner Weise dafür, die Hände in den Schoß zu legen. Es gibt aber auch keinen Anlass, sich von einer angeblichen Superperformance der Amerikaner ins Bockshorn jagen zu lassen. Es stellt sich überhaupt die Frage, ob die USA der wichtigste Vergleichsraum für die Produktivitätsfrage ist. Für die aufgeworfene Fragestellung der Kommission war doch eher der traditionelle Blick über den Atlantik ausschlaggebend. Dass dieser für die Suche nach ökonomisch anregenden Mustern nicht mehr im Vordergrund stehen kann, wird in den nächsten Kettengliedern auf dieser Seite offensichtlich.

 

Zusammenfassend ist aus den präsentierten Daten festzuhalten, dass über die letzten beiden Jahrzehnte hinweg gerechnet eine Produktivitätslücke der USA gegenüber Europa festzustellen ist. 

Dies nun hat Konsequenzen:
Die erste Konsequenz ergibt sich für den Arbeitsmarkt beider Wirtschaftsräume.
Die zweite, strategisch bedeutsamere, ergibt sich hinsichtlich der schwindenden Wettbewerbsfähigkeit der US-Wirtschaft.

 

 

VI.   Die Konsequenzen der US-Produktivitätslücke für den Arbeitsmarkt

Ohne jeden Zweifel zeigt der amerikanische Arbeitsmarkt wesentlich bessere Daten als der europäische. Die Arbeitslosenziffern lagen in den Boomjahren der 90er in Europa fast doppelt so hoch wie in den USA. Zwar hat sich diese Lücke in 2001 und 2002 etwas geschlossen, sie ist aber deutlich.
 

 

Tabelle 5-4:

Niedrigere Arbeitslosigkeit in den USA
 
USA EU
1961 - 70 4,7 2,2
1971 - 80 6,4 3,8
1981 - 90 7,1 8,5
1993 - 00 5,2 10,2
2001 4,8 8,0
2002 5,8 8,3
2003 6,0 8,8
2004 6,1 8,8

Unemployment ratios as % of Civilian Labor Force;
Member States: Definition EUROSTAT; EU_12
all data revised back to 61 - 70

Quelle: EU Kommission (DG ECFIN);                                                                           

MacroAnalyst
 

>Grafik 5-4: Niedrigere Arbeitslosigkeit in den USA

 

Das in den Vereinigten Staaten dominierende Erklärungsmuster identifiziert die hohe europäische Arbeitslosigkeit mit niedrigen Wachstumsraten, ineffizienten Wirtschaftsstrukturen und mangelnder internationaler Wettbewerbsfähigkeit:
Verkalkungsthese   ("Euro sclerosis").

Die auf dieser Web-Seite präsentierte Makrokette legt generell offen, dass diese Etikettierung falsch ist. Dieser Kette zufolge müssen wir eher von einer europäischen Führung hinsichtlich der Effizienz und der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft ausgehen:
Effizienzthese          ("Euro efficiency").

Speziell tritt hinzu, dass die das Arbeitsvolumen bestimmenden Hauptfaktoren ein anderes Bild ergeben.

Europa hat ein empfindliches Arbeitsmarktproblem, keine Frage. Dieses Phänomen ist  jedoch von der ökonomischen Basis her zu analysieren, um es richtig zu verorten. Dies erfordert eine Strukturanalyse. Kurzfristig angelegte Häppchen aus der hype machine verbessern jedenfalls nicht den Durchblick. Sie verfolgen wohl eher das Ziel, einen konkurrierenden Wirtschaftsraum zu unterminieren. Um so befremdlicher ist, dass europäische Medien und Politik diese Nebelkerzen aufgreifen und verbreiten.

Unsere Langfristanalyse belegt, dass eine prinzipielle Gleichsetzung von Arbeitsmarktproblemen mit der Wachstumsperformance einer Wirtschaft in die Irre führt.

Diese Einschätzung basiert auf Erfahrungen, wie sie in der großen Depression der dreißiger Jahre gemacht worden sind. In dieser Phase kam es zu einer parallelen Abwärtsspirale von Wirtschaft und Arbeitsmarkt.

(In den 90er Jahren war in Deutschland schon das Gegenteil zu registrieren. In unserem Research Paper für den US Congress hatten wir dies am Zeitraum 1991 bis 1998 dargestellt. Originaltext vgl.   www.google.de , Stichwörter: ustdrc;  dann: Research Papers ).

Die neue Produktivitätsstudie für die EU-Kommission gibt nun auch Belege für Europa her.

Tabelle 5-5:

EU-Effizienz:   Wirtschaft wächst, aber Produktivität noch stärker;
deshalb keine zusätzliche Beschäftigung

Mittlere Veränderungsraten p. a. 1980 - 2001
  USA EU
Produktion 3 2,3
Produktivität 1,5 2,1
Arbeitsvolumen 1,5 0,1
Produktion = reales BIP
Produktivität = reales BIP je Beschäftigungsstunde
Arbeitsvolumen = volkswi. Beschäftigungsstunden insges.

Quellen:   Originaldatenreihen von O'Mahony and van Ark; EU Productivity and Competitivenes, Produktivitätsstudie für die EU Kommission
Wachstumsraten berechnet von MacroAnalyst                

MacroAnalyst

 

>Grafik 5-5: EU-Wirtschaft wächst ohne Beschäftigungszunahme

 

Die strukturelle Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte belegt, auf welch tönernen Füßen die These einer EuroSlerose steht.

Europas gesamtwirtschaftliche Produktion ist in diesem Zeitraum jedes Jahr im Durchschnitt um 2,3 Prozent gewachsen, nicht gerade wenig. Über 20 Jahre hinweg addiert sich das immerhin zu einer Gesamtexpansion des Bruttoinlandsprodukts von 64 Prozent.

Die Produktivität wuchs aber fast genauso schnell. Die Folge war eine Stagnation bei den insgesamt einzubringenden Arbeitsstunden (lediglich + 0,1 % p.a.).
Wirtschaftswachstum, aber ohne Beschäftigung, das war nicht das Muster der großen Depression.

In den USA sehen wir das genaue Gegenstück. Weil die Produktivität dort auffällig hinter dem Wachstum zurück blieb, nämlich um starke 1,5 % p.a., nur deshalb mußten 1,5 % Beschäftigungsstunden pro Jahr zusätzlich gefahren werden, um diese Mehrproduktion bewältigen zu können. Mit diesem Produktivitätsrückstand ist im wesentlichen der 'Erfolg' am US-Arbeitsmarkt zu erklären. Das Wachstum ist extensiv.

Dieser Datenset belegt klar, dass es grundfalsch ist, das existierende Arbeitsmarktproblem in Europa mit einer Ursachenkonstellation in Verbindung zu bringen, wie sie in der großen Depression, wenn auch natürlich in ganz anderen Ausmaßen, anzutreffen war. Für Europa müssen wir heute zweierlei festhalten:
Auf der einen Seite zeigt es eine gute Perfomance; es weist Wachstum vor und verfügt über eine zufrieden stellende Wettbewerbsfähigkeit (wie wir im nächsten Kettenglied 6 sehen werden).
Auf der anderen Seite stagniert, trotz des Wirtschaftswachstums, das gesamt-wirtschaftliche Arbeitsvolumen - bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sind keine Erfolge auszumachen.
Diese Diskrepanz ist durch den Ursachenkomplex Produktivität zu erklären.

Für die USA hingegen gilt dieses so nicht. Alan Greenspan hat zwar 1997 eine "Produktivitätsrevolution" proklamiert, wie man sie seit Beginn des Jahrhunderts nicht gesehen hätte. Die empirischen Daten belegen dies bis auf den heutigen Tag nicht. Eine Revolution ist etwas substantielles, langfristiges, strukturelles. In der leichten Beschleunigung der Produktivität ab 1996  (siehe oben Tab. und Grafik 5-2) eine Revolution zu sehen, entstammt wohl eher den Kommunikations-Labs der Federal Reserve Bank.

Natürlich existieren weitere wichtige Einflussfaktoren für die Arbeitslosigkeit. Z. B. der Druck auf die Arbeitsmarktflexibilität, wie er in den USA praktiziert wird. Dies ist ein maßgebender Faktor, der allerdings unterhalb der Ebene unserer Web-Seite liegt. Vorsichtshalber wollen wir aber betonen, dass MacroAnalyst die Effizienzthese nicht vertritt, um Hürden gegen die Belebung des Arbeitsmarktes aufzubauen. Die europäische Arbeitslosigkeit ist definitiv zu hoch.

 

VII:    Anmerkungen zur Produktivitätspolitik

Unsere Makrokette enthält eine Analyse. Ein Aufriss der Produktivitätspolitik hat deshalb hier keinen Platz. Aber einige wenige Anmerkungen zu den politischen Ausführungen der neuen Produktivitätsstudie für die EU Kommission seien festgehalten.

Es handelt sich um eine differenziert unterfütterte Arbeit, aus der sich eine Menge Einzelanregungen für den Produktivitätspolitiker herausholen lassen. Die Passagen zur eigentlichen Produktivitätspolitik jedoch sind nicht die Stärke des Gutachtens. Dafür ist allerdings auch die erwähnte Fragestellung "Can Europe resume the catching-up process?" zu eng.

Hier wäre eine Draufsicht aus größerer Höhe erforderlich. Produktivität ist kein Ziel, das eindimensional ins Zentrum der Wirtschaftpolitik gerückt werden kann. Die Begründung dafür liegt in einer wichtigen Differenzierung.

Die Produktivität gehört heute zweifellos zu den Schlüsselgrößen für jegliche Art wirtschaftspolitischer Überlegungen. Sie muss jedoch in den engen Zusammenhang mit zwei weiteren Kernzielen gestellt werden, der Innovation und der Beschäftigung.

Eine neue Sichtweise dieses Phänomens für den makroökonomischen Zusammenhang ist erforderlich:
Die Makroökonomie schenkt der Produktivität in aller Regel nicht die gebührende Beachtung. Wenn sie aber zum Gegenstand der Erörterung gemacht wird, dann trifft man allzu oft lediglich auf eine statische Produktivitätsauffassung . Dieser zufolge gilt Produktivität lediglich als eine formale Definition, als ein "Bruch", in dessen Zähler der Output und in dessen Nenner der Input steht - Punkt. Folge ist dann, dass regelmäßig dann nur der arbeitssparende Effekt wahrgenommen wird.

Entscheidend für wirtschaftspolitisch konzeptionelle Arbeiten ist jedoch gleicherweise der dynamische Charakter der Produktivität (arbeitsschaffender Effekt). Dem zufolge ist Produktivität der Angebotsmotor wirtschaftlichen Wachstums. "Produktivität ist vor allem und zu allererst eine Geisteshaltung. Es ist eine positive Haltung zum Fortschritt, die gewollte dauernde Verbesserung dessen, was existiert. Es ist die Überzeugung, dazu fähig zu sein, es heute besser als gestern und weniger gut als morgen zu machen. ... Es ist die ständige  Anpassung des wirtschaftlichen Lebens an sich ändernde Bedingungen; es ist das dauernde Bemühen, neue Techniken und neue Methoden anzuwenden ...." (Japan Productivity Center). Es handelt sich also um die geballte Anstrengung, mit vorhandener Arbeit mehr (und höherwertigeres) Produktionsvolumen zu erzeugen (KAIZEN).

Diese Anstrengung nun trägt einen arbeitsmarktpolitischen Januskopf:
Einerseits ist die Entfaltung von Produktivität (ex ante) Voraussetzung jedes anspruchsvollen Einsatzes von Arbeit. Ohne Produktivität kein Export, kein Wachstum, lediglich einfache Arbeiten, ökonomisches Niveau der Dritten Welt.
Andererseits führt eine Steigerung der Produktivität, trifft sie auf begrenztes Wachstum der Produktion, zu einem Abbau des volkswirtschaftlichen Arbeitsvolumens. Bei aller dynamischen Beschäftigungsschöpfung für die Zukunft gilt doch auch: Jeder dauerhafte Überschuss von Wachstum der Produktivität im Vergleich zum Wachstum des Sozialprodukts zieht zwangsläufig eine Verringerung der insgesamt zu leistenden volkswirtschaftlichen  Beschäftigungsstunden (= Arbeitsvolumen) nach sich.

Und gerade ein solcher Produktivitätsüberschuss ist eher das europäische Problem als umgekehrt etwa ein Produktivitätsdefizit.

Eine höhere Veranschlagung der Produktivitätsraten in der Zukunft kann nicht ausgeschlossen werden, auch die O'Mahony/van-Bark-Studie lässt diese Annahme zu. Die großen Produktivitätssteigerungen in der Industrie halten nun schon über zwei Jahrzehnte an, sind aber noch keineswegs ausgelaufen. Hinzu kommt jetzt der Bau der digitalen Ökonomie, "die weit effizienter und produktiver ist als heute" (Irving Wladawsky-Berger, IBM). Vor allem wird die Digitalisierung und Vernetzung den gesamten Dienstleistungssektor umbauen, der in der Vergangenheit eher verschont blieb, heute jedoch das größte Gewicht am Arbeitsmarkt hat.

 

Kasten:

Produktivität wird stärker den Dienstleistungssektor erfassen

 

"Die durch den Wettbewerb unabdingbare Effizienzsteigerung durch IT führt in den nächsten Jahren zu einer deutlichen Senkung von Arbeitsprozesskosten - die Banken geben bis zu 40 Prozent an - aber auch zum massiven Abbau von Arbeitsplätzen in allen Bereichen geistiger Routinearbeit.

Dieser internationale Prozess wird in Deutschland zu einer Erhöhung der Arbeitslosigkeit um mindestens eine weitere Million führen.

Die Lösung der bevorstehenden Probleme wird weder durch Wachstum noch durch Rezepte der Vergangenheit möglich sein".

 

Alfons Rissberger, Vorstandsmitglied der Initiative D21;  FAZ, 11. 3. 03

MacroAnalyst

 

Kernaufgabe der europäischen Produktivitätspolitik kann daher nicht die Maximierung eines Ziels sein (Produktivität), sondern muss die Optimierung mehrerer Ziele sein (Produktivität, Innovation, Beschäftigung). Dieses Optimum gilt es noch zu formulieren.

 

Aus den in diesem Kapital präsentierten Daten hatten wir oben zusammenfassend festgehalten, dass - über die letzten beiden Jahrzehnte hinweg gerechnet - eine Produktivitätslücke der USA gegenüber Europa festzustellen ist. 

Unter Punkt VI. hatten wir als erste Konsequenz daraus die Folgen für den Arbeitsmarkt beider Wirtschaftsräume analysiert.

Die zweite, strategisch bedeutsamere Konsequenz der Produktivitätslücke ergibt sich hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit der US-Wirtschaft. Zu vermuten ist, dass eine Ökonomie mit einem langfristigen Produktivitätsproblem Mängel in der Wettbewerbsfähigkeit aufweist.

Dies untersuchen wir im

>Kettenglied 6: Die internationale Wettbewerbsfähigkeit